Selbstbildnis in Digital

Martin Goldmann ist glücklich und im großen und ganzen zufrieden mit sich. Doch sein Selbstbewusstsein bekommt einen herben Schlag, als er ein Selbstportrait fotografieren soll.

„Ich brauche dringend ein Bild von Dir“, sagt Michael. Michael ist Redakteur bei einer ganz anderen Zeitschrift und löst in mir blanken Horror aus. Ein Bild? Von mir? Gerne, aber warum muss das denn eines sein, auf dem ich abgebildet bin?

Woher soll ich denn jetzt auf die Schnelle ein Foto bekommen? Zum Fotografen mag ich nicht gehen, ist mir zu teuer. Und der Passbildautomat in der U-Bahn-Station kommt auch nicht in Frage. Der redet zu viel. Automaten die reden sind mir suspekt. Mir ist alles suspekt, das redet, aber nicht zuhören kann, vor allem, wenn es in der U-Bahn steht.

Also ein Selbstbildnis? Na gut, es sei. Die berühmtesten Maler haben sich selbst portraitiert gemacht. Aber die hatten die Zeit dafür und bestimmt jemand, der ihnen die Haare zurecht gemacht und ihnen ein seidenmattes Umbra aufgelegt hat.

Wer gibt mir Umbra? Ich könnte einiges davon brauchen. Denn zu allem Überfluss sehe ich heute reichlich zerstört aus. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin sonst ganz zufrieden mit mir und meinem Äußeren. Aber der Stress hat dicke Ringe unter meine Augen gezeichnet und unsere Agapornidendame „Donna“ singt uns seit heute morgen um halb sieben in den Tag. Haben Sie schon mal einen Kleinpapageien singen hören? Das klingt wie ein kleines, schmiedeeisernes, verrostetes Gartentor, das im Sekundentakt auf- und wieder zu geschwungen wird.

Eine leichte Erkältung hat außerdem meine Nase in zartes Rot gefärbt, meine Haare stehen in alle Richtungen, kurz, heute bin ich gar nicht fotogen. Aber es hilft nichts. Selbstportrait ist angesagt. Und zumindest der Prozess des Fotografierens hat ja seinen Reiz. Denn ich muss mit dem Selbstauslöser arbeiten.

Meine erste Arbeit mit Selbstauslöser war ein Klassenfoto in der achten oder neunten Klasse. Der Plan: Kamera einstellen, Selbstauslöser rattern lassen, auf einen freien Stuhl springen, mit fotografiert werden. Auf allen Fotos ist noch heute ein Stuhl leer. Ich hatte nämlich auf den Auslöser gedrückt, in der Annahme, der würde wiederum den Zeitauslöser auslösen. So gesehen, war das die erste große Panne in meiner Fotografenkarriere.

Eingedenk dieser Panne beschließe ich, diesmal den Selbstauslöser richtig zu bedienen. Ich klemme die Nikon aufs Stativ, packe den Blitz oben drauf und richte alles auf das beige Hintergrundpapier aus, vor das ich mich stellen möchte. Zum ersten Mal freue ich mich richtig über den schwenkbaren Kleinbildschirm, auf dem ich mich selbst in Pose setzen kann. Das Dumme dabei ist nur: Die Kamera stellt vor dem Selbstauslösen scharf, zählt dann herunter und löst aus.

Wer bitte kam auf diese Idee? Warum zählt das Ding nicht erst runter und stellt dann scharf? Wie soll ich auf etwas scharf stellen, das noch gar nicht da ist? Wie soll ich den Selbstauslöser auslösen, wenn ich schon posiere? Denn die Kamera steht zwei Meter weg; damit ich nicht wie ein erkälteter Luftballon aussehe habe ich ein wenig gezoomed.

Also beschließe ich, es mit Verrenkungen zu probieren und bin froh, dass mich niemand sieht. Ich halte meine rechte Hand etwa dort in die Höhe, wo ich später meinen Kopf hinhalte, drücke mit der linken den Selbstauslöser zurecht und löse aus. Kamera stellt auf Hand scharf, ich springe hin und – blitz – das Bild ist gemacht. Nach dem siebten oder achten Sprung ist das Bild dann zumindest technisch ok: ich gucke in die richtige Richtung und meine Brille sitzt auch nicht so schief. Und immerhin – das Bild ist scharf.

Die Freude währt nur kurz. Vielleicht wäre das Bild besser doch nicht so scharf, denn ich sehe entsetzlich aus. Freud lässt grüßen, als mit Photoshop in das Bild hineinzoome und lese „Tatsächliche Pickel“ statt „Tatsächliche Pixel“. Heut‘ ist nicht mein Tag.

Das sicher ein prima Ansatz für ein neues Plugin: wie wäre es mit Kai’s Power Bartschatten-weg oder „Despeckle Face“, damit ich so aussehe wie die Models auf den Fernsehzeitschriften. Und warum eigentlich hat jedes Bildbearbeitungsprogramm eine Rote-Augen-Funktion, aber keine Rote-Nase-Funktion?

Nach einer halben Stunde Bearbeitung mag ich mich nicht mehr sehen. Michael muss das Bild nehmen, das er bekommt. Sein Grafiker soll dann den David-Hamilton-Weichzeichner über das Bild jagen und das Ganze in Briefmarken-Größe drucken, dann sieht es hoffentlich nicht mehr so schlimm aus.

Ich fahre jetzt erstmal in Urlaub. Da gibt es jeden Tag Gurkenmasken und Moorbäder. Mal schauen, vielleicht gibt’s dort auch ein wenig Umbra.

kolumne_04_01

Fotos im Schneckentempo: Mein Kampf mit der Speicheranzeige

Digitale Kameras sind technische Wunderwerke. Doch manchmal wundert man sich doch sehr über die Technik. Wie schaffen es die Kameras nur, so langsam Bilder zu speichern? Computerfoto-Kolumnist Martin Goldmann hat sich seine Gedanken dazu gemacht.

Mögen Sie alte Diesel-Autos? Jene Maschinen mit 45 PS, die sich erst nach der Rudolf-Diesel-Gedenkminute starten lassen, bevor sie nagelnd um die nächste Ecke rußen? Ich mag diese Autos und bin froh, dass ich keines mehr fahren muss.

Dafür, dass ich mich immer wieder an diese lange Minute vor dem Anlassen meines alten Kadett Diesel im Winter erinnere, dafür sorgt meine Kamera. Sie ist jenes Stück High-Tech, das ich täglich bewundere und von dem ich während meiner ersten Diesel-Fahrzeuge noch nicht einmal träumte. Doch Kamera und Kadett sind sich nicht unähnlich: Was einst das Starren auf das gelbe Vorglüh-Lämpchen war ist jetzt das Warten, bis die Speicheranzeige des Bildes endlich wieder verschwindet.

Diese Speicheranzeige stellt sich mir besonders gerne dann in den Weg, wenn es mal schnell gehen muss: Ein schneller Schnappschuss bleibt immer auf einen Schuss beschränkt. Nach dem Bild zieht sich die Kamera erst einmal zurück. Sie faltet sorgfältig Bit um Bit zusammen, komprimiert ein Pixel hier, einen Bildpunkt da, sucht nach einem hübschen Speicherplätzchen, wägt ab, ob das Bit dort auch wirklich gut aufgehoben ist, verwirft den Speicherplatz wieder, sucht sich einen anderen Platz und macht zwischendurch erst einmal eine Pause, weil all das so anstrengend ist.

Mit der Zeit gewöhnt man sich an solches Verhalten der Kamera. Und ich finde es auch nicht mehr so peinlich, wenn ich das Gruppenbild bitte, noch ein paar Sekunden stehen zu bleiben, bis ich das zweite und dritte Foto im Kasten habe. Während dessen hat der Analog-Fotograf schon zwei Filme durch seinen Winder gejagt, diese entwickelt, vergrößert und in einer renommierten Ausstellung untergebracht.

Doch wehe mir, ich möchte in Serie fotografieren. Denn meine Kamera kann immerhin drei Fotos in kurzer Folge machen. Und mit etwas Geschick lässt sich zum Beispiel ein Pferd beim Absprung, im Flug und in der Landephase ablichten. Doch es bleibt bei dem einen Sprung. Nach den drei Serienbildern zieht sich die Kamera erst einmal zurück und speichert still vor sich hin. Der Springreiter ist in dieser Zeit schon einmal durch den Parcours gehoppelt und hat gar kein Verständnis dafür, wenn ich ihn bitte, doch die Strecke nochmals zu reiten.

Meine Kamera benimmt sich wie ein Computer der ersten Stunde: Nix Multitasking, erst wird gespeichert. Ich habe fast das Gefühl, dass im Inneren der Speicherkarten ein träger Mini-Mechanismus unglaublich kleine Löcher in winzige Lochkärtchen stanzt. Anders ist diese Trägheit beim Speichern nicht zu erklären.

Ist es denn wirklich nicht möglich, einen ausreichend großen Puffer in die Kameras zu bauen, einen ausreichend schnellen Prozessor und die Fähigkeit, im Hintergrund Daten zu speichern, während das aktuelle Bild aufgenommen wird? Jeder Computer hier ist schneller.

Oder muss ich mein Fotografen-Verhalten umstellen? Vielleicht wechsle ich meine Lieblingsmotive und stelle mich auf das Speicherverhalten meiner Kamera ein. Dann treibe ich mich künftig auf Veranstaltungen von Oldtimer-Clubs herum und fotografiere alte Diesel-Kisten mit ihren Besitzern. Die haben bestimmt Verständnis dafür, wenn’s mit dem zweiten Bild mal etwas länger dauert.

kolumne_03_09

Kreative Winterfotos 2006: Kunst aus Kabelsalat

Drinnen ist’s am schönsten, wenn’s draußen graut. Doch was soll man im Winter drinnen fotografieren? Martin Goldmann hat eine tolle Idee. Er verwirklicht seine künstlerischen Ambitionen mit Kabelfotografie.

Der Winter. Er hat seine Schattenseiten. Vorbei ist’s mit dem Ausflug ins Grünen. Keine Blüte blüht, keine Sonne schlägt Schatten. Es regiert tristes Blaugrau, das nur gelegentlich von einem ebenso tristen Graublau abgelöst wird. Mit Schnee ist hier auch nicht viel los. Alle paar Jahre fällt einmal katastrophal viel. Dann ist’s wieder ruhig.

Der Winter, das ist die Zeit zur inneren Einkehr. Die Zeit, nach Hause zu kommen, zur Ruhe zu finden und alles etwas langsamer anzugehen.

Nicht für mich. Winter ist die Zeit für die Indoor-Fotografie. Kaum ein Tag, an dem ich nicht mit Kamera und Blitz bewaffnet in der Wohnung umherstreife und nach neuen Fotoobjekten suche. Kabel zum Beispiel. In der Abstellkammer habe ich jede Menge davon. 20 Jahre meiner persönlichen Computer-, Video- und Foto-Historie haben sich in einem Karton zu einem gigantischen Knäuel vereinigt.

Franziska weiß, was ihr droht, als ich mit dem Kabelkarton bewaffnet in das Wohnzimmer trampele. Ich schiebe ihre Arbeitsunterlagen vom Wohnzimmertisch und baue mein provisorisches Studio auf: Ein großes Blatt Tonpapier, mit Reißzwecken an eine Leiste geheftet und diese Leiste an die Wohnzimmerwand genagelt.

„Man muss Kabelgeschichte dokumentieren“, sage ich zu ihr, als ich den Hammer aus der Hand lege und fange an, einige Kabel aus dem Knäuel zu zerren.

„Wie wäre es, wenn Du etwas Essig und Öl an den Kabelsalat gibst und das Ganze in den Biomüll wirfst?“, schnappt Franziska zurück. Anscheinend gefällt es ihr nicht, dass ich den Wohnzimmertisch eingenommen habe und Sonntag-Nachmittags Leisten in die Wohnzimmerwand nagele.

Sie hat einfach keinen Draht zur Fotokunst und zum Kabel. Dabei sind diese Wunderwerke doch einmalig schön. „Findest Du nicht?“, frage ich Franziska und halte ihr ein altes Ethernet-Kabel vor die Nase. „So ein Netzwerkkabel mit maximalem Zoom und minimaler Tiefenschärfe…“

„…Salz und Pfeffer“, ergänzt Franziska und freut sich immer noch nicht über meine künstlerische Arbeit.

„Schatz, schau, das gibt so schöne Bilder. Hier an der Wand fehlt uns ohnehin noch etwas Hübsches, Technisches.“ Ich deute auf die Wohnzimmerwand, die voll hängt mit Bildern von Blumen, Insekten, Fröschen, Vögeln, Pferden. Klare Sache: Hier fehlt etwas Nüchternes, Sachliches. Hier fehlt ein Kabel-Foto.

„Komm, hilf mir lieber aufbauen.“ Franziska fügt sich ihrem Schicksal. Ihr Kalkül ist klar: Je früher ich mit den Kabeln fertig bin, desto eher hat sie wieder Ruhe.

Wir fangen an, die Kabel auf dem Tisch zu drapieren. Als erstes schwebt mir eine Komposition aus Netzwerkkabel und Videokabeln vor. Das symbolisiert das Zusammenwachsen verschiedener Welten, der Datentechnik und der Unterhaltung. Eine klare Kritik an der Spaßgesellschaft ist das und ein deutliches Statement zur Globalisierung. Denn was wäre Globalisierung ohne Kabelverbindungen. So viel Symbolik lässt mich leise jauchzen.

Franziska fehlt leider jeglicher Sinn für wahre Kunst und für meine Aussagen. Sie sieht die Videokabel nicht als Gesamtkunstwerk, sondern als Videokabel und klatscht sie auf den Tisch. All‘ meine Belehrungen helfen nichts. „Schau“, versuche ich sie für wahre Kunst zu begeistern, „Kabel schaffen Bindungen, es gibt männliche und weibliche Stecker…“

„Ja! Und RJ45 kommt von der Venus, S-Video vom Mars“, rückt sie meine Darstellungen ins kulturakademische Abseits und schickt ein Lächeln hinterher, das mir noch genau fünf Minuten Zeit gibt, meinen Kram hier zusammenzupacken und mich anderweitig kreativ zu verwirklichen.

Vielleicht ist es doch besser, ich gehe mit meiner Kamera hinaus in die Winterlandschaft. Dort beschäftige mich mit den Nuancen des Graublaugrau eines Winternachmittags und kann in einer Stunde wieder in ein friedliches, harmonisches Zuhause zurückkehren. Denn der Winter ist die Zeit der Heimkehr — aber erst, wenn man vorher mal an der frischen Luft war.

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Warum mag niemand meine Fotos?

Der Blick in die Röhre

Jeden Tag ein Foto? Kein Problem. Jeden Tag 20 Fotos – großes Problem. Denn irgendjemand muss die Bilder ja auch ansehen. Computerfoto-Kolumnist Martin Goldmann fragt sich, warum niemand seine Bilder bewundern will.

Heute hat der Frühling angefangen. Vögelein zwitschern, die Sonne kommt heraus. Und von meiner Haustür im Wiesengrund liegen rostige Röhren. Ist das nicht himmlisch? Rostige Röhren. Sie haben den Winter überdauert, drei Überschwemmungen getrotzt und sehen richtig schön verlebt aus. Ich wundere mich, warum ich die Röhren noch nicht fotografiert habe. Vielleicht war es die tief durchweichte Matschwiese, die mich davon abgehalten hat? 

Andere träumen von solchen Fotomotiven. Von Fotomotiven, die sie heraus reißen aus dem Einerlei der Blüten, Pilze und Haustiere, aus der Tristesse von Sonnenauf- und Untergängen, aus den verflixten Ast- und Baumstrukturen hinter denen sich der trübe Winterhimmel erstreckt.

Mich hält nichts mehr. Raus hier und die Kamera auf die Röhren gehalten. In die Röhre geknipst, daran vorbei geknipst, mal über-, mal unterbelichtet, mal gezoomed, mal die Tiefe geschärft. Herrlich dieser Frühling. Endlich Sonne, endlich wieder Belichtungszeiten unterhalb der 1/30 Sekunde,

Und da – ein Autoreifen. Heute ist mein Glückstag. Mitten im Wasserschutzgebiet steht ein Breitreifen. Ein Symbol für den nahenden Sommer? Schließlich ist’s ein Sommerreifen.

Also auch den knipsen. Extrem zoomen für minimale Schärfentiefe und abdrücken. Überbelichten, unterbelichten. Ist das ein schöner Tag.

So, 150 MByte sind voller Röhren und Reifen. Ab nach Hause und Bilder bearbeiten. 

Der Tag wird noch schöner, als Franziska das Zimmer betritt. Doch sie ahnt schlimmes und will schon die Flucht ergreifen als ich ihr sage: „Guck mal, ich habe neue Bilder“. Offenbar löst dieser Satz bei vielen einen Fluchtreflex aus. Wenn mich Freunde im Büro besuchen, setzen Sie sich immer möglichst weit weg vom Monitor und blicken starr zum Fenster heraus. Meistens wollen sie mich eh nur abholen, kommen gar nicht herauf und wollen irgendwo hin, wo es keine Monitore gibt.

Franziska will auch irgendwo hin, aber mein Blick hält sie zurück. Ein Blick, den Psychologen irgendwo zwischen Profi-Fotograf mit künstlerischem Ansatz und Dackel einordnen. „Schau, ich habe eine Röhre fotografiert,“ sage ich ihr stolz, ziehe sie vor meinen Monitor und weise sie bei den nächsten zwölf Röhren auf die fein differenzierten Grashalme und den leicht verschobenen Focus der einzelnen Aufnahmen hin. 

Franziska hält genau diese zwölf Röhren lang durch. Als ich noch flachse „na, jetzt guckst Du in die Röhre“, verlässt sie unter einigem Protest den Raum. Ob ihr wohl die zwölfte Röhre nicht gefallen hat, die Röhre, die ich absichtlich leicht überbelichtet habe, um die Struktur im Inneren der Röhre hervorzuheben?

Das ist das Brot des Fotokünstlers: Das Publikum ist undankbar. Da stellt man sich bei Wind und Wetter hinaus, um ein paar Bilder zu schießen – und wer dankt es einem? Niemand. Dann stellt man sich bei Sonnenschein heraus – und bekommt genauso wenig Dank. Doch ich gebe nicht auf. Jetzt bearbeite ich die Reifenbilder. Und dann kommt mir Franziska nicht mehr so einfach aus. Denn der Reifen wird der Hammer, ein neuer Meilenstein der digitalen Fotografie. Und wenn nicht – dann fotografiere ich wieder Blüten, Pilze und Haustiere.

05/2003

Warum fotografieren Menschen Eisenbahn?

Warum fotografieren Menschen Eisenbahn? Computerfoto-Kolumnist Martin Goldmann tat das auch – in seiner Jugend. Heute versucht er endlich dahinter zu kommen, warum ihm das eigentlich gefiel.

„Entschuldigen Sie, worauf warten Sie denn da?“ Der ältere Herr fragte freundlich. Es mag ihn ein wenig gewundert haben, dass an einem Sonntagnachmittag, Anfang Januar ein einsamer Mensch mitten auf der Eisenbahnbrücke steht. „Ich fotografiere Eisenbahn“, sagte ich dem älteren Herren. Die Antwort stellte ihn zufrieden und er zog freundlich von dannen. Vermutlich hat er schon eine feste Meinung zu Zugfotografen. 

Der Mann ging, seine Frage blieb. Was zum Donner mache ich hier eigentlich? Seit 10 Minuten warte ich auf einen Zug. Und es kommt nicht einmal eine Draisine. Nicht, dass wir hier arm an Zügen wären. Nein, hier laufen so viele Schienenstränge zusammen, dass ein ICE den anderen jagt. Und außerdem fuhr hier in der Gegend einst die erste Eisenbahn in Deutschland. Da wird wohl 168 Jahre später mal noch ein zweiter Zug kommen?

Merksatz 1 für Zugfotografen: an einem Sonntag fahren weniger Züge. 

Merksatz 2: An Sonntag-Nachmittagen kann es im Januar ziemlich kalt werden. Besonders auf hohen, nicht wind geschützten Brücken. Nehmen Sie Handschuhe und Mütze mit.

So stand ich da und wartete. Während meine Finger langsam einfroren, erinnerte ich mich daran, was Eisenbahnfotografie eigentlich ausmacht: Es ist der Jagd-Instinkt. Zugfotografen liegen auf der Lauer (Einsteiger sollten es nicht gerade im Januar probieren) und warten… Da! Ein Zug! Anlegen, scharf stellen lassen und mit der Serienbildfunktion der Kamera durchknipsen. Treffer, Halali. Das Gute ist: Der Zug kann nicht ausweichen, schlägt keine Haken oder fliegt weg. Die Fahrtrichtung des Zuges ist vorhersehbar. Sie können also in Ruhe zielen. Und wenn Sie einen Zug verpassen, kommt nach ein paar Minuten ein Neuer und Sie können es nochmals probieren. Außer an Sonntagen

Ich stehe immer noch auf der Brücke und friere. Da, endlich, ein Rauschen ein Sirren, ich hebe die Kamera und bekomme meinen ICE endlich vor die Linse. Nun aber nichts wie weg von dieser Zugbrücke ((boah, das ist dreideutig: Zugbrücke, Brücke auf der es zieht, Brücke, auf der ein Zug fährt 😉 – bitte streichen)) 

Ich gehe weiter in Richtung Hauptbahnhof. Da ist es an solchen Tagen viel angenehmer. Die Zugfotografen haben ein Dach über dem Kopf und meist ein paar Gebäude außen herum als Windschutz. Und es gibt prima Motive zum Üben. Strukturen, Linien, Hochspannungsleitungen, Gestrüpp, Weichensignale, Lokomotiven. Die Bildmotive wechseln im Viertelstundentakt (außer Sonntags). Über die Gleise hinweg sieht man freien Himmel und Linien, Diagonalen, Fluchtpunkte. Und wer sich ein wenig auf die Wege abseits wagt, findet herrliche Industrie-Altbauten, Bauschutt, kaputte Uhren oder ausrangierte Waggons. Auf den Bahnsteigen gibt es Leben, Menschen, Tiere. 

Jetzt weiß ich wieder, was Eisenbahnfotografie ausmacht. Tausend Motive auf ein paar Hundert Quadratmetern, unendlich viel Spiel- und Übungsraum. Nur ab und zu fragt mal jemand, was man da eigentlich macht. Und Sie antworten am besten: „Ich fotografiere Eisenbahn.“

03/2003

Hochzeitsfotografie 2002 – alles läuft schief

Hochzeitsfotografie. Tausend Gesichter, ein Festsaal und ein indirekter Blitz. Das ist die Geschichte, aus der 200 Bilder entstehen, von denen zwei oder drei gut belichtet sind.

Es ist Hochzeit. Meine beste Freundin heiratet. Ich bin fest entschlossen, diesen Abend in Bildern festzuhalten. Gleich im Eingang schaffe ich klare Verhältnisse, packe die Kamera aus, stecke den Blitz auf und drücke zwei Mal ab. Mit mir im Saal sind noch drei, vier andere Fotografen. Wir taxieren einander wie Revolverhelden zu High Noon, spielen demonstrativ mit den Knöpfen unserer Kameras und lassen schließlich voneinander ab, um die Hochzeitsgäste zu fotografieren. Das ist das Tolle an so einer Hochzeit. Kein Mensch stört sich daran, wenn um ihn herum wildgewordene Hobby-Fotografen wirbeln und jedes Detail aufnehmen.

Im Saal blitzt es. Wir Fotografen haben unsere ersten Motive gefunden und lichten das Brautpaar aus jeder Perspektive ab. Es ist die Zeit für Experimente und Feineinstellung. Ich drehe den Blitz nach oben und sehe zu, was ich vor die Linse bekomme. Das Brautpaar sieht bald nur noch bunte Sterne und zieht sich aus dem Schussbereich zurück.

Und ich suche mir ein neues Motiv. Klar, die Totale muss es sein. Neulich habe ich gelesen: „Suchen Sie sich auf Hochzeiten eine erhöhte Position für Bilder.“ Ich schnappe mir einen Stuhl, steige drauf und drücke ab. Erstes Bild: Vordergrund überstrahlt, zweites Bild unterbelichtet, drittes Bild: Kamera zu niedrig gehalten. Aber die Perspektive ist klasse. Ich drehe den Blitz etwas weiter zur Decke und belichte noch ein paar Bilder unter — bis ich merke, dass die Decke an dieser Stelle gar nicht weiß getüncht ist, sondern in einem indifferenten Braun vor sich hindunkelt. Das heißt: 12 zu 0 für unterbelichtet. 

Das Essen wird serviert, außerdem würde sich der Besitzer des Stuhls gerne wieder setzen. Ich muss aufhören. Zum ersten Mal an diesem Abend wechsle ich ein paar Worte mit anderen Gästen ohne gleichzeitig durch den Sucher zu blicken. Die meisten fragen mich, warum ich den Blitz nach oben drehe, obwohl die Decke so dunkel ist. Ich erzähle ihnen mit profihaftem Lächeln etwas von „weicheres Licht“ und „das packt der Blitz schon“.

Meine Ausführungen werden jäh unterbrochen. Denn er ist da, der Augenblick des ersten Tanzes. Das Motiv des Tages. Wir Fotografen werfen uns nach vorne. Ich schubse den einen aus demWeg, trete dem anderen auf die Füße haue noch einem den Ellenbogen in die Rippen und habe den besten Platz. Nun muss ich das Paar nur noch richtig erwischen. Erster Schuß: sitzt – perfekte Belichtung, gute Schärfe. Mist. Zu hoch gehalten, Füße ab. Nochmal. Meine Nikon speichert. Dann ist sie wieder bereit. Ich drücke ab. Auslöseverzögerung, Feuer. Und voll den Rücken des Bräutigams erwischt. Gut, noch ein Versuch, speichern, laden… Ich halte kurz inne, atme aus und drücke hab. Prima, die Braut hat auch einen schönen Rücken.

Viereinhalb Drehungen weiter der nächste Versuch. Endlich habe ich sie da, wo ich sie haben wollte. Klick! Und mitten im Schuß drängt sich eine graue Sakkoschulter ins Bild und beschwert sich über Rippenschmerzen. 

Ich lasse ab vom tanzenden Paar, diskutiere mit dem grauen Sakko über dessen Blutergüsse und erzähle ihm, dass es bei den Pressefotografen in Berlin auch nicht anders zugehe. Er ist beleidigt und geht. „Wir spielen hier ja kein Halma“, rufe ich ihm noch nach, als er den Saal verlässt. 

Dann setze mich in eine Ecke und mache mich über meine fotografische Beute her. Weltvergessen klicke ich 200 Bilder durch. Mit der Zeit wird es stiller. Die Musik ist zu Ende und ich merke nicht, dass die Stühle schon hoch gestellt werden.

Irgendjemand nimmt mich am Arm und zieht mich behutsam nach oben, redet beruhigend auf mich ein, windet mir die Kamera aus der verkrampften Hand und bringt mich nach Hause. 

Als ich mich am nächsten Mittag nach langem Ausschlafen an meinen PC setze und die Bilder durchsehe, weiß ich, was ich gelernt habe: Blitze lieber direkt, wenn die Decke nichts reflektiert und fordere das Paar beim Brauttanz auf, mindestens eine Minute zu posieren. Vielleicht gelingen mir dann mehr als drei gut Bilder.

10/2002

Eitle Verkehrszeichen – ein Fotowalk durch die Heimatstadt

Computerfoto-Kolumnist Martin Goldmann fotografierte einen Tag lang in seiner Heimatstadt und entdeckte dabei das seltsame Verhalten der Verkehrsschilder.

Es sind diese sonnigen Herbst-Samstag-Nachmittage. Die Sonne steht herrlich schräg, das Licht ist gülden und warm. Das Wetter schreit „Mach Fotos“. Also raus aus dem Sofa, sonnig angezogen, vor die Tür gegangen, halb erfroren, noch eine dicke Jacke angezogen und ab in die weite Welt der Fotografie.

Was nehmen wir denn heute? Dürre Äste im Herbstwind? Hatten wir schon letzte Woche. Ein paar Makroaufnahmen noch grüner Grashälme? Nicht schon wieder. Landschaften? Nein. Heute ist die Stadt dran. Häuser, Architektur, Fachwerk. 

Also ab in die Stadt. Mal sehen, wie viele Häuser, Gebäute und Stätten auf 256 MByte Speicher passen.

Zunächst fotografiere ich mich warm. Eine Brücke hier, ein kleiner Wasserfall mit Dunstschleier im Gegenlicht da. Und dann das erste Fachwerkhaus. Schön steht es da. Ich drücke ab und merke nichts. Hübsch ist das Bild geworden. Warme Stimmung, schönes Fachwerk, leere Straße, kein Verkehrsschild.

Wie es sich für den mutigen Hobbyfotografen gehört, biege ich in den nächsten Hinterhof ab. Schade, zu viel Schatten.

Der zweite Hinterhof bringt’s. Wieder ein schönes, schick restauriertes Haus. Zwar kein Fachwerk. Aber immerhin. Erst beim Nachbearbeiten später fällt mir auf: Da steht ein kleines Halteverbotschild links unten. Ob es mir nachgelaufen ist?

Weiter geht es, wieder hinunter zum Fluss. Herbstromantik wärmt mein Gemüt. Ich drehe mich um, platziere das nächste Haus im Sucher und drücke ab. Ein Fachwerk ohne Füllung. Interessant für Kenner, schön für alle, die klare Strukturen in Bildern mögen. Nur das Verkehrsschild stört, das mit dem Rücken zu mir steht. Und was macht das Halteverbot dort rechts? Ob Sie mich verfolgen? 

Blödsinn. Verkehrsschilder sind da, um befolgt zu werden und nicht, um zu verfolgen. Hoffentlich wissen die Zeichen auch um den Unterschied in der Vorsilbe. 

Ein weiteres Haus, diesmal mit mehr Straße.

Und mit zwei Verkehrsschildern. Sie scheinen aus allen Ecken zu kommen, sie verfolgen mich, ich bin mir jetzt sicher.

Wieder daheim durchstöbere ich die Bilder. Da, Halteverbot, da, Einbahnstraße, da Parken erlaubt. Auf jedem Bild Schilder, Schilder, Schilder. Die einen drücken sich ganz schüchtern im Schatten, die anderen drängen frech in den Vordergrund.

Jetzt weiß ich endlich um die wahren Eigenschaften der Schilder: Sie sind eitel. Sie wollen gesehen werden. Deshalb hüpfen Sie in jedes Bild. Achten Sie selbst darauf: Wenn Sie durch die Straßen fahren: Kaum Schilder. Auch beim Spaziergang stört nichts. Nur Abends, manchmal, stellt sich beim Heimgang aus der Kneipe ein Schild in den Weg. 

Aber ziehen Sie ein Mal nur die Kamera aus der Tasche und halten Sie auf ein interessantes Motiv. Zack: Binnen Millisekunden stellen sich Schilder in Ihr Bild. Nehmen Sie zum Beweis die immer wieder erscheinenden Bilder über den deutschen Schilderwald. Haben Sie wirklich schon mal so viele Schilder auf einen Haufen gesehen, wie das Foto zeigt. Nein? Na, also.

Was kann man dagegen tun? Die Software-Industrie entwickelt bereits fleißig an Tools. „Kai’s Traffic Booboo“ befindet sich dem Vernehmen nach in der Beta-Phase. Und Corel will mit „Sign Stamp Out“ verlorene Marktanteile zurück erobern. Das Programm erkennt automatisch Verkehrszeichen und blendet sie aus. 

Doch die Software kuriert nur Symptome. Das Problem ist doch: Die Verkehrszeichen werden zu wenig beachtet. Jeder Autofahrer weiß, wovon die Rede ist. Wer schert sich schon um die Schilder, wenn er es eilig hat oder einen Parkplatz sucht? 

Vielleicht liegt es nur an uns selbst? Vielleicht müssen wir den Zeichen mehr Achtung schenken. Deshalb: Gehen Sie ab und zu mal hinaus und lassen Sie ein Verkehrsschild posieren. Sprechen Sie mit den Zeichen und sagen Sie ihnen, dass Sie sie mögen. Mit der Zeit werden sich die Schilder dann beachtet fühlen und sich nicht mehr in jedes Bild drängeln.

10/2002

Digitale Fixierlösung – aus den Anfängen der Digitalfotografie

Nach langen Jahren wagt Kolumnist Martin Goldmann endlich den Schritt zur ernsthaften digitalen Aufnahmetechnik. Und er entdeckt keine Parallelen zum klassichen analogen Bad in der Fixierlösung. Fast keine.

Ganz sicher war ich mir nie, worin ich eigentlich gerade meine Hände badete. Geschirrspülmittel war es nicht. Denn es stand nicht Palmolive auf der Verpackung, sondern Ilford. Und der Duft, ja der Duft des Entwicklerbades hatte etwas von Morgenduft bei BASF- oder war es die Fixierlösung? Und dann das Wasserbad in der Dusche. „Vergrößerungen dekontaminieren.“ Klar, dass jedes Mal hinterher alles naß war. 

Hach, die Infrarotlicht-Romantik im eigenen Fotolabor, hier stimmte die Chemie.

Ich vermisse das nicht.

Es gibt Menschen, die würden so etwas vermissen. Und denen sei ihr Labor zu Hause auch unbelassen. Wer sich die Zeit nimmt, wird viel Freude dabei haben, das letztze Quäntchen Kontrast in den Grauabstufungen seines Schwarz-Weiß-Œuvre herauszukitzeln. Aber es gibt ja auch Menschen, die den ganzen Samstag im Motorraum ihres 30 Jahre alten BMW verbringen oder sich unter de Modellbahnanlage Lötzinn in die Augen tropfen lassen. Jeder soll seinen Spaß haben.

Mir hat es gereicht. Irgendwann hatte ich genug Dämpfe eingeatmet, genug gewässert, genug Probestreifen gezogen. Ich wollte das Licht außerhalb der Dunkelkammer sehen, wollte unter Menschen kommen, ein normales Leben führen. Ich wandte mich ab vom Schwarz-Weiß und allen seinen grauen Schattierungen. Zuerst ging es zum völlig albernen Umkehrfilm mit den herrlich umständlich zu verwaltenden Dias. Die Dias liegen noch heute, nach bald 20 Jahren, unsortiert in den ollen Agfa-Kästchen. Eines Tages kommt mal ein Dia-Scanner her. Und dann…

Dann kam Negativ-Film. Das war immer spannend. Welches Labor würde denn diesmal welchen Stich in meine Bilder zaubern? Müller grün, Mediamarkt blau, Saturn-Hansa gelb? Es ging so weit, dass ich wirklich wichtige Bilder als Handarbeits-Einzelaufträge an Labors vergeben habe. Wohlgemerkt als Gelegenheitsknipser, nicht als Profi.

Irgendwann war es genug. Ich habe aufgehört, zu fotografieren. Nur gelegentlich zog ich mit meiner Mju 1 durch die Gegend. Meine alte Pentax MX 1 kommt nur noch alle paar Jahre aus der Schublade heraus, auf der Suche nach einem freundlichen Foto-Spezialisten, der sie entharzt und neu schmiert.

Ein kurzes Intermezzo mit einer jetzt schon total veralteten DC240 brachte nur wenig Freude. Verschlusszeiten wie ein Cabrioverdeck, und Bildfolgen im Minutentakt nahmen dem Fotografieren erst recht die Freude. Immerhin. Ich konnte sofort sehen, welche Einstellung ich gerade vergeigt hatte – sofern die Batterien nicht vorher alle waren.

Doch jetzt ist sie da, die neue Digitalkamera, schön wie ein Desktop-Computer, elegant wie eine Butterbrot-Dose. Fünf Megapixel schwer, mit zwei Akkupacks, befreit sie mich von all dem Elend der Chemie und unzureichender Technik. Sie befreit mich vom Sortieren meiner Dias. Sie befreit mich von all den Farbstichen dieser Welt, die unsere Labors je zu Papier brachten. Und sie befreit mich von nächtelangen Sitzungen im dunklen Labor.

Und das Beste: Sie macht anständige Bilder und ich darf alle Automatik abstellen. Ich habe wieder Freude am Fotografieren gefunden. Nun sitze ich nächtelang vor dem Computer. Statt Rotlicht sehe ich einen schimmernden Bildschirm, statt Probestreifen anzufertigen, kämpfe ich mich durch Histogramme oder krümme Gradationslininen. Statt Belichten mit der Stoppuhr fordert pixelgenaues Schieben und das Rätseln in zwölf Ebenen meine Geduld. 

So habe ich das Beste aus beiden Welten: Ich kann schneller und preiswerter Fotografieren. Und zum pfriemeln, experimentieren und testen bleibt immer noch genug Spielraum. Nur den Duft, den Duft des Fixierbades, den vermisse ich doch ein wenig.

09/2002

Fotografieren auf dem Bahnhof

Wissen Sie schon, was Sie heute fotografieren wollen? Gehen Sie doch mal zum Bahnhof. Da haben Sie alles: Natur, Action und jede Menge Motive.

Eine alte Leidenschaft ist wieder erweckt. Mein Vater schleppte mich einst über zahllose Bahnhöfe, an schiefe Ebenen und schicke Bahnübergänge. Und das nur, um Lokomotiven zu fotografieren. Einmal hätte mich ein irrsinnig rares Exemplar eine Rangierlok sogar fast überfahren.

So eine Lokomotive fasziniert – und je älter sie ist, desto mehr fasziniert sie. Diese Antithese zum windschlüpfigen Design der Neuzeit, diese Ecken, diese Kanten, diese kaum verhüllten Details. Wenn Sie irgendwo noch eine Pleuelstange sehen — halten Sie drauf.

Probieren Sie einmal aus, gehen Sie zum Bahnhof. Sie haben ein Dach über dem Kopf wenn es regnet oder schneit, sie haben Strukturen, Linien, Hochspannungsleitungen, Gestrüpp. Ihre Bildmotive können Sie im Viertelstundentakt wechseln, ohne sich vom Fleck zu bewegen. Sie haben den weiten Himmel der Landschaftsaufnahmen, die Gebäude für Architektur-Fotografie und Sie können den Jagdinstinkt befriedigen oder geduldig auf das Motiv warten. Sie haben Portraits, Menschen, Tiere. Und wenn Sie sich ein wenig auf die Wege abseits wagen haben SIe herrliche Ruinen, Bauschutt und kaputte Uhren. Wer mag da schon woanders hingehen?

Aber denken Sie vor Ihrer Fototour an eins: Der Bahnhof im nächsten Dorf ist möglicherweise nicht der ideale Einstieg in die Zugfotografie. Zwar liegen hier Schienen, doch das muss nicht heißen, dass hier auch ein Zug kommt. Gehen Sie zum Bahnhof in der nächst größeren Stadt. Später, wenn Sie das Kursbuch auswendig können und wenn Ihnen Ihr Freund im Bahnbetriebswerk verraten hat, welche Lok diesmal den Bummelzug zieht. Dann können Sie sich auch an einsame Stellen stellen und den Zug erwarten.

Wenn Sie sich beim Warten auf das nächste Bild langweilen, lauschen Sie ein den Durchsagen am Bahnsteig und sehen Sie in die genervten Gesichter der Bahnreisenden, wenn sie kopfschüttelnd auf die Uhr blicken, nur weil ihr tariferneuerter ICE wegen einer Signalstörung ein Stündchen später kommt. Halten Sie mit der Kamera drauf — ein Reisender mit Blick auf die Uhr am Bahnhof vermittelt gewisse Spannung. Seien Sie aber behutsam. Nicht dass der Reisende seinen Frust an Ihnen auslässt.

Ein kleiner Tipp noch zum Schluss: stecken Sie sich ein Nachschlagewerk ein. Denn falls Sie auf der Pirsch einen anderen Lok-Fotografen treffen, sollten Sie zumindest nach dem Fachsimpeln nachschauen können, worüber Sie sich gerade unterhalten haben.

02/2002

Der Pferdefotografierer

Pferde sind schöne Tiere. Doch wer sie fotografieren will, muss sich mit der ebenso einfachen wie schwierigen Gedankenwelt der Pferde auseinandersetzen. Computerfoto-Tierfotograf Martin Goldmann hat diese Welt erkundet.

Jeder, der eine Digitalkamera hat, knipst Insekten. Bienen, Falter, Libellen und Spinnen, Fliegen und Wespen gehören ins Standard Repertoire jedes Digital-Fotografen. Aber es muss doch noch andere Tiere geben. Wie wäre es mit Pferden? Treue Gesellen unserer Kultur, fast ein wenig wie Hunde, nur größer und nicht ganz so laut. Sie sind sanfte Wesen, die das Gemüt beruhigen, sobald man nur in ihrer Nähe steht. Doch der Fotograf muss sich daran gewöhnen, dass Pferde bei aller Liebenswürdigkeit im Wesentlichen drei Grundgedanken in sich tragen. Erster Gedanke: „Ui, das kann ich fressen“, zweiter Gedanke „argh, das will mich fressen“, dritter Gedanke „jetzt muss ich aber wirklich mal was fressen“. 

Apple Pie heißt unser Pferd. Ein lieber Geselle, manchmal ein wenig trottelig und unglaublich fotogen. Wenn, ja wenn ich es nur einmal schaffen würde, das Pferd so vor die Kamera zu bekommen, dass ich abdrücken kann. Neulich, es war ein schöner Spätherbsttag, sind Franziska und ich zu unserem Pferd gefahren und die Nikon war auch dabei.

Apple Pie sah uns und versank sofort in seinem Gedankendreieck: Gedanke 1 erfasste ihn, als er meine Kamera sah. Sofort streckte sich die Nase zum 1000-Euro-Technik-Highlight. Und hätte ich die Kamera nicht sofort weg gezogen, hätte Apple Pie probiert, wie das schwarze Ding schmeckt. Dabei steht eindeutig „Nikon“ auf der Kamera und nicht „Pellets“, „Leckerli“ oder ein anderer Name für Pferdefutter. Ein Beweis, dass Pferde eben nicht lesen können.

Doch mit dem Gedanken Nummer 1 war es sofort vorbei, als ich die Kamera hob und einen langsamen Schritt in seine Richtung machte: Gedanke 2 schoß ihm in den Sinn. Das Pferd hob den Kopf und trat einen Schritt zurück. Schließlich könnte das zweibeinige Viech mit dem schwarzen Trum im Gesicht ja ein Raubtier sein. Auch wenn es so riecht und im Großen und Ganzen auch so aussieht wie dieser Typ, der gerade noch da stand und etwas zu fressen in der Hand hatte. Ich trat noch einen Schritt auf Apple Pie zu – und saß in der Falle. Denn sofort schaltete das Pferd zurück auf Gedanken 1 und versuchte eben doch mal an der Kamera zu knabbern. So schnell wird aus dem Fressfeind ein Fressfreund.

Wir nahmen Apple Pie aus der Box und machten uns auf den Waldweg. Wie? Sie waren noch nie mit einem Pferd spazieren? Stellen Sie es sich einfach so vor, wie Gassi gehen. Nur wiegt der Hund 700 Kilogramm, bellt und beißt zwar nicht, schiebt einen aber gelegentlich zärtlich vom Weg in das Gestrüpp.

Da draußen auf dem Weg endlich waren Gedanke 1 und 2 verflogen, Apple Pie war fotogen, das Licht fantastisch und ich wollte endlich losknipsen. Leider fiel es dem Gaul ein, dass es ja noch den Gedanken Nummer 3 gab. Und dazu stand neben dem Weg jede Menge feines Gras. Nichts war es mit Bildern. Hatte ich unser Pferd endlich richtig im Sucher, drückte ich den Auslöseknopf und während der schier unendlichen Verzögerung wandte sich die Fressaufnahmeluke schon wieder dem nächsten Grasbüschel zu. Erst nach einer halben Stunde, 40 Versuchen und ein wenig Gerangel darum, wer nun auf dem Weg gehen darf, hatte ich ein paar Bilder im Kasten. 

Aber jetzt weiß ich, warum alle anderen so gerne Insekten fotografieren: Es liegt nicht am neu entdeckten Makromodus der Kamera sondern daran, dass die Viecher berechenbar sind und still halten – zumindest im Gegensatz zu Apple Pie.

(zuerst veröffentlicht in Computerfoto 2/2003)