Der Pferdefotografierer

Pferde sind schöne Tiere. Doch wer sie fotografieren will, muss sich mit der ebenso einfachen wie schwierigen Gedankenwelt der Pferde auseinandersetzen. Computerfoto-Tierfotograf Martin Goldmann hat diese Welt erkundet.

Jeder, der eine Digitalkamera hat, knipst Insekten. Bienen, Falter, Libellen und Spinnen, Fliegen und Wespen gehören ins Standard Repertoire jedes Digital-Fotografen. Aber es muss doch noch andere Tiere geben. Wie wäre es mit Pferden? Treue Gesellen unserer Kultur, fast ein wenig wie Hunde, nur größer und nicht ganz so laut. Sie sind sanfte Wesen, die das Gemüt beruhigen, sobald man nur in ihrer Nähe steht. Doch der Fotograf muss sich daran gewöhnen, dass Pferde bei aller Liebenswürdigkeit im Wesentlichen drei Grundgedanken in sich tragen. Erster Gedanke: „Ui, das kann ich fressen“, zweiter Gedanke „argh, das will mich fressen“, dritter Gedanke „jetzt muss ich aber wirklich mal was fressen“. 

Apple Pie heißt unser Pferd. Ein lieber Geselle, manchmal ein wenig trottelig und unglaublich fotogen. Wenn, ja wenn ich es nur einmal schaffen würde, das Pferd so vor die Kamera zu bekommen, dass ich abdrücken kann. Neulich, es war ein schöner Spätherbsttag, sind Franziska und ich zu unserem Pferd gefahren und die Nikon war auch dabei.

Apple Pie sah uns und versank sofort in seinem Gedankendreieck: Gedanke 1 erfasste ihn, als er meine Kamera sah. Sofort streckte sich die Nase zum 1000-Euro-Technik-Highlight. Und hätte ich die Kamera nicht sofort weg gezogen, hätte Apple Pie probiert, wie das schwarze Ding schmeckt. Dabei steht eindeutig „Nikon“ auf der Kamera und nicht „Pellets“, „Leckerli“ oder ein anderer Name für Pferdefutter. Ein Beweis, dass Pferde eben nicht lesen können.

Doch mit dem Gedanken Nummer 1 war es sofort vorbei, als ich die Kamera hob und einen langsamen Schritt in seine Richtung machte: Gedanke 2 schoß ihm in den Sinn. Das Pferd hob den Kopf und trat einen Schritt zurück. Schließlich könnte das zweibeinige Viech mit dem schwarzen Trum im Gesicht ja ein Raubtier sein. Auch wenn es so riecht und im Großen und Ganzen auch so aussieht wie dieser Typ, der gerade noch da stand und etwas zu fressen in der Hand hatte. Ich trat noch einen Schritt auf Apple Pie zu – und saß in der Falle. Denn sofort schaltete das Pferd zurück auf Gedanken 1 und versuchte eben doch mal an der Kamera zu knabbern. So schnell wird aus dem Fressfeind ein Fressfreund.

Wir nahmen Apple Pie aus der Box und machten uns auf den Waldweg. Wie? Sie waren noch nie mit einem Pferd spazieren? Stellen Sie es sich einfach so vor, wie Gassi gehen. Nur wiegt der Hund 700 Kilogramm, bellt und beißt zwar nicht, schiebt einen aber gelegentlich zärtlich vom Weg in das Gestrüpp.

Da draußen auf dem Weg endlich waren Gedanke 1 und 2 verflogen, Apple Pie war fotogen, das Licht fantastisch und ich wollte endlich losknipsen. Leider fiel es dem Gaul ein, dass es ja noch den Gedanken Nummer 3 gab. Und dazu stand neben dem Weg jede Menge feines Gras. Nichts war es mit Bildern. Hatte ich unser Pferd endlich richtig im Sucher, drückte ich den Auslöseknopf und während der schier unendlichen Verzögerung wandte sich die Fressaufnahmeluke schon wieder dem nächsten Grasbüschel zu. Erst nach einer halben Stunde, 40 Versuchen und ein wenig Gerangel darum, wer nun auf dem Weg gehen darf, hatte ich ein paar Bilder im Kasten. 

Aber jetzt weiß ich, warum alle anderen so gerne Insekten fotografieren: Es liegt nicht am neu entdeckten Makromodus der Kamera sondern daran, dass die Viecher berechenbar sind und still halten – zumindest im Gegensatz zu Apple Pie.

(zuerst veröffentlicht in Computerfoto 2/2003)

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