Computerfoto-Kolumnist Martin Goldmann fotografierte einen Tag lang in seiner Heimatstadt und entdeckte dabei das seltsame Verhalten der Verkehrsschilder.
Es sind diese sonnigen Herbst-Samstag-Nachmittage. Die Sonne steht herrlich schräg, das Licht ist gülden und warm. Das Wetter schreit „Mach Fotos“. Also raus aus dem Sofa, sonnig angezogen, vor die Tür gegangen, halb erfroren, noch eine dicke Jacke angezogen und ab in die weite Welt der Fotografie.
Was nehmen wir denn heute? Dürre Äste im Herbstwind? Hatten wir schon letzte Woche. Ein paar Makroaufnahmen noch grüner Grashälme? Nicht schon wieder. Landschaften? Nein. Heute ist die Stadt dran. Häuser, Architektur, Fachwerk.
Also ab in die Stadt. Mal sehen, wie viele Häuser, Gebäute und Stätten auf 256 MByte Speicher passen.
Zunächst fotografiere ich mich warm. Eine Brücke hier, ein kleiner Wasserfall mit Dunstschleier im Gegenlicht da. Und dann das erste Fachwerkhaus. Schön steht es da. Ich drücke ab und merke nichts. Hübsch ist das Bild geworden. Warme Stimmung, schönes Fachwerk, leere Straße, kein Verkehrsschild.
Wie es sich für den mutigen Hobbyfotografen gehört, biege ich in den nächsten Hinterhof ab. Schade, zu viel Schatten.
Der zweite Hinterhof bringt’s. Wieder ein schönes, schick restauriertes Haus. Zwar kein Fachwerk. Aber immerhin. Erst beim Nachbearbeiten später fällt mir auf: Da steht ein kleines Halteverbotschild links unten. Ob es mir nachgelaufen ist?
Weiter geht es, wieder hinunter zum Fluss. Herbstromantik wärmt mein Gemüt. Ich drehe mich um, platziere das nächste Haus im Sucher und drücke ab. Ein Fachwerk ohne Füllung. Interessant für Kenner, schön für alle, die klare Strukturen in Bildern mögen. Nur das Verkehrsschild stört, das mit dem Rücken zu mir steht. Und was macht das Halteverbot dort rechts? Ob Sie mich verfolgen?
Blödsinn. Verkehrsschilder sind da, um befolgt zu werden und nicht, um zu verfolgen. Hoffentlich wissen die Zeichen auch um den Unterschied in der Vorsilbe.
Ein weiteres Haus, diesmal mit mehr Straße.
Und mit zwei Verkehrsschildern. Sie scheinen aus allen Ecken zu kommen, sie verfolgen mich, ich bin mir jetzt sicher.
Wieder daheim durchstöbere ich die Bilder. Da, Halteverbot, da, Einbahnstraße, da Parken erlaubt. Auf jedem Bild Schilder, Schilder, Schilder. Die einen drücken sich ganz schüchtern im Schatten, die anderen drängen frech in den Vordergrund.
Jetzt weiß ich endlich um die wahren Eigenschaften der Schilder: Sie sind eitel. Sie wollen gesehen werden. Deshalb hüpfen Sie in jedes Bild. Achten Sie selbst darauf: Wenn Sie durch die Straßen fahren: Kaum Schilder. Auch beim Spaziergang stört nichts. Nur Abends, manchmal, stellt sich beim Heimgang aus der Kneipe ein Schild in den Weg.
Aber ziehen Sie ein Mal nur die Kamera aus der Tasche und halten Sie auf ein interessantes Motiv. Zack: Binnen Millisekunden stellen sich Schilder in Ihr Bild. Nehmen Sie zum Beweis die immer wieder erscheinenden Bilder über den deutschen Schilderwald. Haben Sie wirklich schon mal so viele Schilder auf einen Haufen gesehen, wie das Foto zeigt. Nein? Na, also.
Was kann man dagegen tun? Die Software-Industrie entwickelt bereits fleißig an Tools. „Kai’s Traffic Booboo“ befindet sich dem Vernehmen nach in der Beta-Phase. Und Corel will mit „Sign Stamp Out“ verlorene Marktanteile zurück erobern. Das Programm erkennt automatisch Verkehrszeichen und blendet sie aus.
Doch die Software kuriert nur Symptome. Das Problem ist doch: Die Verkehrszeichen werden zu wenig beachtet. Jeder Autofahrer weiß, wovon die Rede ist. Wer schert sich schon um die Schilder, wenn er es eilig hat oder einen Parkplatz sucht?
Vielleicht liegt es nur an uns selbst? Vielleicht müssen wir den Zeichen mehr Achtung schenken. Deshalb: Gehen Sie ab und zu mal hinaus und lassen Sie ein Verkehrsschild posieren. Sprechen Sie mit den Zeichen und sagen Sie ihnen, dass Sie sie mögen. Mit der Zeit werden sich die Schilder dann beachtet fühlen und sich nicht mehr in jedes Bild drängeln.
10/2002
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