Warum fotografieren Menschen Eisenbahn? Computerfoto-Kolumnist Martin Goldmann tat das auch – in seiner Jugend. Heute versucht er endlich dahinter zu kommen, warum ihm das eigentlich gefiel.
„Entschuldigen Sie, worauf warten Sie denn da?“ Der ältere Herr fragte freundlich. Es mag ihn ein wenig gewundert haben, dass an einem Sonntagnachmittag, Anfang Januar ein einsamer Mensch mitten auf der Eisenbahnbrücke steht. „Ich fotografiere Eisenbahn“, sagte ich dem älteren Herren. Die Antwort stellte ihn zufrieden und er zog freundlich von dannen. Vermutlich hat er schon eine feste Meinung zu Zugfotografen.
Der Mann ging, seine Frage blieb. Was zum Donner mache ich hier eigentlich? Seit 10 Minuten warte ich auf einen Zug. Und es kommt nicht einmal eine Draisine. Nicht, dass wir hier arm an Zügen wären. Nein, hier laufen so viele Schienenstränge zusammen, dass ein ICE den anderen jagt. Und außerdem fuhr hier in der Gegend einst die erste Eisenbahn in Deutschland. Da wird wohl 168 Jahre später mal noch ein zweiter Zug kommen?
Merksatz 1 für Zugfotografen: an einem Sonntag fahren weniger Züge.
Merksatz 2: An Sonntag-Nachmittagen kann es im Januar ziemlich kalt werden. Besonders auf hohen, nicht wind geschützten Brücken. Nehmen Sie Handschuhe und Mütze mit.
So stand ich da und wartete. Während meine Finger langsam einfroren, erinnerte ich mich daran, was Eisenbahnfotografie eigentlich ausmacht: Es ist der Jagd-Instinkt. Zugfotografen liegen auf der Lauer (Einsteiger sollten es nicht gerade im Januar probieren) und warten… Da! Ein Zug! Anlegen, scharf stellen lassen und mit der Serienbildfunktion der Kamera durchknipsen. Treffer, Halali. Das Gute ist: Der Zug kann nicht ausweichen, schlägt keine Haken oder fliegt weg. Die Fahrtrichtung des Zuges ist vorhersehbar. Sie können also in Ruhe zielen. Und wenn Sie einen Zug verpassen, kommt nach ein paar Minuten ein Neuer und Sie können es nochmals probieren. Außer an Sonntagen
Ich stehe immer noch auf der Brücke und friere. Da, endlich, ein Rauschen ein Sirren, ich hebe die Kamera und bekomme meinen ICE endlich vor die Linse. Nun aber nichts wie weg von dieser Zugbrücke ((boah, das ist dreideutig: Zugbrücke, Brücke auf der es zieht, Brücke, auf der ein Zug fährt 😉 – bitte streichen))
Ich gehe weiter in Richtung Hauptbahnhof. Da ist es an solchen Tagen viel angenehmer. Die Zugfotografen haben ein Dach über dem Kopf und meist ein paar Gebäude außen herum als Windschutz. Und es gibt prima Motive zum Üben. Strukturen, Linien, Hochspannungsleitungen, Gestrüpp, Weichensignale, Lokomotiven. Die Bildmotive wechseln im Viertelstundentakt (außer Sonntags). Über die Gleise hinweg sieht man freien Himmel und Linien, Diagonalen, Fluchtpunkte. Und wer sich ein wenig auf die Wege abseits wagt, findet herrliche Industrie-Altbauten, Bauschutt, kaputte Uhren oder ausrangierte Waggons. Auf den Bahnsteigen gibt es Leben, Menschen, Tiere.
Jetzt weiß ich wieder, was Eisenbahnfotografie ausmacht. Tausend Motive auf ein paar Hundert Quadratmetern, unendlich viel Spiel- und Übungsraum. Nur ab und zu fragt mal jemand, was man da eigentlich macht. Und Sie antworten am besten: „Ich fotografiere Eisenbahn.“
03/2003
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