Der Blick in die Röhre
Jeden Tag ein Foto? Kein Problem. Jeden Tag 20 Fotos – großes Problem. Denn irgendjemand muss die Bilder ja auch ansehen. Computerfoto-Kolumnist Martin Goldmann fragt sich, warum niemand seine Bilder bewundern will.
Heute hat der Frühling angefangen. Vögelein zwitschern, die Sonne kommt heraus. Und von meiner Haustür im Wiesengrund liegen rostige Röhren. Ist das nicht himmlisch? Rostige Röhren. Sie haben den Winter überdauert, drei Überschwemmungen getrotzt und sehen richtig schön verlebt aus. Ich wundere mich, warum ich die Röhren noch nicht fotografiert habe. Vielleicht war es die tief durchweichte Matschwiese, die mich davon abgehalten hat?
Andere träumen von solchen Fotomotiven. Von Fotomotiven, die sie heraus reißen aus dem Einerlei der Blüten, Pilze und Haustiere, aus der Tristesse von Sonnenauf- und Untergängen, aus den verflixten Ast- und Baumstrukturen hinter denen sich der trübe Winterhimmel erstreckt.
Mich hält nichts mehr. Raus hier und die Kamera auf die Röhren gehalten. In die Röhre geknipst, daran vorbei geknipst, mal über-, mal unterbelichtet, mal gezoomed, mal die Tiefe geschärft. Herrlich dieser Frühling. Endlich Sonne, endlich wieder Belichtungszeiten unterhalb der 1/30 Sekunde,
Und da – ein Autoreifen. Heute ist mein Glückstag. Mitten im Wasserschutzgebiet steht ein Breitreifen. Ein Symbol für den nahenden Sommer? Schließlich ist’s ein Sommerreifen.
Also auch den knipsen. Extrem zoomen für minimale Schärfentiefe und abdrücken. Überbelichten, unterbelichten. Ist das ein schöner Tag.
So, 150 MByte sind voller Röhren und Reifen. Ab nach Hause und Bilder bearbeiten.
Der Tag wird noch schöner, als Franziska das Zimmer betritt. Doch sie ahnt schlimmes und will schon die Flucht ergreifen als ich ihr sage: „Guck mal, ich habe neue Bilder“. Offenbar löst dieser Satz bei vielen einen Fluchtreflex aus. Wenn mich Freunde im Büro besuchen, setzen Sie sich immer möglichst weit weg vom Monitor und blicken starr zum Fenster heraus. Meistens wollen sie mich eh nur abholen, kommen gar nicht herauf und wollen irgendwo hin, wo es keine Monitore gibt.
Franziska will auch irgendwo hin, aber mein Blick hält sie zurück. Ein Blick, den Psychologen irgendwo zwischen Profi-Fotograf mit künstlerischem Ansatz und Dackel einordnen. „Schau, ich habe eine Röhre fotografiert,“ sage ich ihr stolz, ziehe sie vor meinen Monitor und weise sie bei den nächsten zwölf Röhren auf die fein differenzierten Grashalme und den leicht verschobenen Focus der einzelnen Aufnahmen hin.
Franziska hält genau diese zwölf Röhren lang durch. Als ich noch flachse „na, jetzt guckst Du in die Röhre“, verlässt sie unter einigem Protest den Raum. Ob ihr wohl die zwölfte Röhre nicht gefallen hat, die Röhre, die ich absichtlich leicht überbelichtet habe, um die Struktur im Inneren der Röhre hervorzuheben?
Das ist das Brot des Fotokünstlers: Das Publikum ist undankbar. Da stellt man sich bei Wind und Wetter hinaus, um ein paar Bilder zu schießen – und wer dankt es einem? Niemand. Dann stellt man sich bei Sonnenschein heraus – und bekommt genauso wenig Dank. Doch ich gebe nicht auf. Jetzt bearbeite ich die Reifenbilder. Und dann kommt mir Franziska nicht mehr so einfach aus. Denn der Reifen wird der Hammer, ein neuer Meilenstein der digitalen Fotografie. Und wenn nicht – dann fotografiere ich wieder Blüten, Pilze und Haustiere.
05/2003
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